Webseiten barrierefrei gestalten
Accessibility ist für viele bislang noch kein Thema, das bei der Erstellung von Internetauftritten berücksichtigt wird. Selten wird der Gedanke daran verschwendet, ob auch Besucher mit Behinderungen mit diesen Seiten umgehen können und z. B. Formulare abschicken oder es schaffen, einen Kauf zu tätigen. Wenigen ist bewusst, dass nicht nur blinde Menschen Probleme im Umgang mit Websites haben. Auch diejenigen, die z. B. farbenblind, taub, sprachbehindert oder motorisch eingeschränkt sind (manchmal auch nur temporär) stoßen zum Teil auf große Barrieren im Internet. Auch für „Silver Surfer“ bedeuten barrierefrei gestaltete Websites eine erhebliche Erleichterung.
Dabei ist die Gestaltung barrierefreier Websites sehr von Vorteil, wenn es um Conversion- oder Suchmaschinenoptimierung geht. Wichtige Aspekte, durch die das Thema Accessibility auch auf Entscheiderebene auf offene Ohren stoßen sollte. Doch wie sieht die Akzeptanz zur Erstellung barrierefreier Websites in der Praxis aus?
Experteninterview
Zwei Experten auf diesem Gebiet sind Jan E. Hellbusch und Kerstin Probiesch, deren Buch „Barrierefreiheit verstehen und umsetzen: Webstandards für ein zugängliches und nutzbares Internet“ am 21. März erscheint. Wir durften die Accessibility-Spezialisten zu ihren Erfahrungen und Einschätzungen befragen.
Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Thema Accessibility und warum ist Barrierefreiheit im Internet so wichtig?
„Wir beide bearbeiten das Thema seit 10 Jahren, anfangs in einem vom Bund geförderten Projekt. Inzwischen haben wir uns beide selbstständig gemacht und beraten Organisationen und Firmen zur Barrierefreiheit im Internet. Accessibility – in Deutschland ist „Barrierefreiheit“ der passendere Begriff – ist wichtig, weil sie die Nutzung von Webangeboten für alle verbessert. Zwar stehen bei Barrierefreiheit Menschen mit Behinderungen im Vordergrund, dies schmälert jedoch nicht die allgemeine Bedeutsamkeit des Themas. Von den meisten Aspekten der Barrierefreiheit profitieren viele weitere Nutzer: das können die vergessene Brille, eine Sehnenüberlastung im Arm und natürlich das Alter sein.“
Was schätzen Sie, wie hoch der Anteil an Websites ist, die barrierefrei sind oder zumindest teilweise die Richtlinien der WAI (Web Accessibility Initiative) umgesetzt haben?
„Auf diese Frage kann leider keine konkrete und prüfbare Antwort gegeben werden – allein schon angesichts der Millionen verfügbarer Websites. Zudem würde eine flächendeckende und genaue Prüfung daran scheitern, dass diese sehr zeitintensiv wäre. Hin und wieder werden solche Testergebnisse zur Barrierefreiheit vorgestellt. Schaut man sich diese jedoch näher an, stellt man fest, dass entweder nur automatisiert geprüft oder nur einige wenige Einzelseiten eines Webangebots unter die Lupe genommen wurden. Was man aber auf jeden Fall sagen kann ist, dass im Gegensatz zu früher mehr auf korrekte Umsetzung von Webstandards geachtet wird. Dies betrifft beispielsweise:
• Trennung von Inhalt und Layout
• Verstärkte Verwendung von Überschriftenelementen – auch wenn es zuweilen mit der korrekten Verschachtelung und Gliederung der Inhalte hapert oder auch
• Sinnvolle Dokumenttitel
Diese Aspekte müssen natürlich im Zusammenhang mit der Verbesserung und Verbreitung von CMS bzw. das Setzen auf dynamische Websites gesehen werden. Dass es trotzdem zahlreiche Seiten gibt, die mit Tabellen aufgebaut werden und weder mit Überschriften strukturiert noch mit aussagekräftigen Dokumententiteln versehen sind, heißt aber nicht, dass andere Seiten schlechter sind. Vielleicht weisen sie bessere Kontraste auf oder verfügen über bessere Navigationsmechanismen. Damit wollen wir sagen, dass viele Seiten in einzelnen Aspekten auch Webstandards zur Barrierefreiheit umsetzen, aber die große Masse an Angeboten ist meist nur zum Teil barrierefrei. Selbstverständlich ist dies aber trotz der zahlreichen Tests auf Barrierefreiheit, die wir als Berater im Kundenauftrag durchführen nur ein subjektiver Eindruck.“
Wie hat sich Ihr Surfverhalten im Internet geändert, seitdem Sie sich mit Accessibility beschäftigen? Wie „betrachten“ Sie Websites?
Jan Eric Hellbusch: „Mein Verhalten hat sich kaum geändert. „Früher“ gab es gute und schlechte Seiten und das ist heute genauso. Vor 10 Jahren habe ich mir zumindest noch ab und zu die Zeit genommen, Anbieter von nicht barrierefreien Seiten zu kontaktieren. Das wird aber schnell zu einer Vollzeitbeschäftigung. Trotz meiner Spezialisierung sehe ich mich immer noch als Nutzer und, ganz ehrlich, wenn ich mit einer Seite aus welchen Gründen auch immer nicht klar komme, suche ich mir eine Alternative.“
Kerstin Probiesch: „Natürlich schaue ich oft und gerade bei neuen Websites oder auch Relaunches sozusagen „unter die Haube“ – allein schon, um z.B. auf gute Lösungen hinweisen zu können oder auch problematische Aspekte in Schulungen und Vorträgen zu zeigen und zu erklären. Dabei interessiert mich vor allem die Barrierefreiheit von Social Media Diensten und Anwendungen. Manchmal lasse ich beispielsweise Tools wie die Firefox Erweiterung „HeadingsMap“ parallel mitlaufen, um mir ein Bild über die Überschriftenstruktur einer Seite zu machen. Es kommt jedoch auch schon mal vor, dass ich mir eigene kleine Style Sheets schreibe oder Texte im Browser vergrößere – manchmal weil ich tatsächlich ein Problem habe, manchmal aber auch einfach nur, wenn es dann angenehmer zu lesen ist. Hier hat man als Beraterin und Prüferin natürlich Vorteile gegenüber Nutzern, die nicht so vertraut mit Browserfunktionen sind.“
Welche 3 Punkte im Hinblick auf die WAI sind für Sie die wichtigsten bzw. welche 3 Punkte würden Sie im Hinblick auf SEO-Nutzen zuerst umsetzen lassen?
„Im Zusammenhang mit SEO sind dies: Sinnvolle Dokumenttitel (auch für PDF), semantischer Seitenaufbau etwa durch Überschriften und Überschriftenhierarchien und natürlich Textalternativen für Grafiken und Filme.“
Welche Unternehmen sind es, die ihre Websites barrierefrei gestalten oder umgestalten lassen? In welchen Branchen sind barrierefreie Websites am ehesten zu finden?
„Durch die gesetzlichen Verpflichtungen weisen die Websites des Bundes und der Länder natürlich den höchsten Grad an Barrierefreiheit auf. Bei kommunalen Websites sieht dies von Bundesland zu Bundesland aufgrund der heterogenen Gesetzgebung schon anders aus. In der Privatwirtschaft gibt es einzelne Highlights, aber insgesamt scheint uns der Wert der Barrierefreiheit in der Wirtschaft leider noch nicht angekommen zu sein. Hier sind es am ehesten noch die Shopbetreiber, die langsam und sicherlich auch aufgrund des demographischen Wandels den Wert von Barrierefreiheit– im wahrsten Sinne des Wortes – verstehen.“
Wie schätzen Sie den Erfolg ein, Accessibility auf besonders großen Websites umzusetzen? Welche Schwierigkeiten begegnen Ihnen am häufigsten, wenn Sie Unternehmen mit großen Websites beraten?
„Leider wird Barrierefreiheit viel zu oft als Add-On gesehen. Berater zur Barrierefreiheit werden dann zu einem sehr späten Zeitpunkt in die Projektarbeit eingebunden, quasi oft erst dann, wenn es heißt: „Ach ja: Barrierefrei soll es auch sein.“ Eine nachträgliche Prüfung deckt aber meist konzeptionelle Fehler auf, wogegen man sich natürlich wehrt. Dies hat zur Folge, dass Seiten umgestrickt werden müssen oder Veränderungen erst im nächsten Release berücksichtigt werden können. Die Probleme betreffen häufig die Tastaturbedienbarkeit, aber auch Farbkonzepte.
Eine weitere Beschränkung ergibt sich durch die eingesetzten Systeme. Obwohl viele Systeme konfigurierbar sind, können darin meist nur ein Teil der Webstandards zur Barrierefreiheit umgesetzt werden. Vor allem im Hinblick auf das tägliche Einstellen von Inhalten durch Online-Redakteure müssten Möglichkeiten und Kontrollmechanismen deutlicher herausgearbeitet werden – sei es der Umgang mit Linktexten, die Strukturierung von Inhalten oder das Einbeziehen von Glossaren und dergleichen. Insgesamt stellen die Anforderungen der Barrierefreiheit also durchaus Anforderungen an CMS und Online-Redakteure.“
Das Thema Accessibility ist aus unserer Erfahrung noch nicht weit verbreitet. Das merkt man auch daran, dass es kaum Literatur zu diesem Thema gibt. Sie haben ein Buch über Barrierefreies Webdesign geschrieben, das im April in aktualisierter Auflage erscheint. Welche Rückmeldungen erhalten Sie auf Ihr Buch bzw. Ihre Website?
„Unser Buch „Barrierefreiheit verstehen und umsetzen“ ist eine Neuerscheinung im dpunkt.Verlag. Es behandelt barrierefreies Webdesign vor allem unter dem Gesichtspunkt der Web Content Accessibility Guidelines 2.0. Das alte Buch „Barrierefreies Webdesign“ aus 2004 ist vergriffen und wird nicht neu erscheinen. Da unser Buch derzeit noch im Druck ist haben wir natürlich noch keine Rückmeldungen erhalten. Geplant ist aber ein Online-Formular für Rückmeldungen und natürlich für Errata. Zu der Website www.barrierefreies-webdesign.de gibt es immer wieder Feedback. Das meiste ist Lob für das Engagement. Die Kritik beschränkt sich auf einige wenige Aspekte, wie z.B. dass eine Seite nicht validiert. Zugegebenermaßen ist die Website mittlerweile auch überarbeitungsbedürftig, was nach einer schöpferischen Pause auf die Tagesordnung kommen wird.“
Es ist bekannt, dass sich Accessibility in vielen Bereichen positiv auf die Bewertung durch Suchmaschinen auswirken kann. In welchen Bereichen haben Accessibility und SEO Ihrer Meinung nach die geringsten Berührungspunkte?
„Die geringsten Berührungspunkte bestehen wohl in den Anforderungen für eine sehr große Nutzergruppe: Sehbehinderte. Mindestvorgaben für ausreichende Kontrastverhältnisse oder variable Schriftgrößen dürften die Bewertung durch Suchmaschinen nicht beeinflussen. Allerdings baut man Websites natürlich nicht für Suchmaschinen sondern für Menschen. Gibt es Probleme, dann entscheidet der Nutzer, ob er wiederkommt oder nicht.“
Wie beurteilen Sie die Beweggründe, die Unternehmen haben, das Thema Accessibility auf ihren Websites umzusetzen? Welche Rolle spielt SEO dabei?
„Unternehmen sollten ein Interesse haben, ihre Websites möglichst barrierefrei umzusetzen – allein schon wegen des demographischen Wandels. SEO und Barrierefreiheit können Hand in Hand gehen, auch wenn manchmal die Gemeinsamkeiten überschätzt werden.“
Dieser Aussage schließen wir uns an. Viel zu häufig wird vergessen, dass im Mittelpunkt eigentlich der Besucher steht und nicht die Suchmaschine. Wir hoffen, dass in Zukunft mehr Unternehmen erkennen, dass barrierefreie Websites einen Mehrwert für alle bieten. Wir bedanken uns bei Frau Probiesch und Herrn Hellbusch für das Interview.
Campixx Workshop zum Thema Accessibility
Wer sich für das Thema interessiert, sollte unseren Workshop auf der SEO Campixx 2011 in Berlin zum Thema Barrierefreie Websites besuchen!
[…] dazu haben wir mit Herrn Jan E. Hellbusch und Frau Kerstin Probiesch ein Interview zum Thema Barrierefreies Webdesign geführt. In diesem wurde klar, wie wichtig und sinnvoll es ist, das Internet für jeden […]
Hallo,
das neue Buch „Barrierefreiheit verstehen und umsetzen“ von Herrn Hellbusch und Frau Probiesch ist sehr gut geworden. Kann ich wärmstens empfehlen!